Mittwoch, 5. März 2014

Sagenabend



Tief verschneit präsentiert sich das alte Dorf von Saas-Grund. Auf dem Friedhof gibt der Schnee nur noch die Spitzen der Holzkreuze frei. Gleich daneben: Kerzenlicht erleuchtet gespenstig das Saaserstübli, das älteste Wirtshaus im Saastal. Und da hinein huschen durch die Nacht immer mehr gut eingehüllte Gestalten.

Sagenabend ist angesagt. Das Saaserstübli im alten Dorf ist dazu der optimale Ort. Es präsentiert sich noch so, wie es in den 60-iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verlassen wurde. Zusammen mit dem Kerzenlicht, der Nacht, dem Schnee und dem angrenzenden Friedhof wird man da in alte, spannende und auch etwas unheimliche Zeiten versetzt. Und dann kommt mein Auftritt. Ich darf alte Walser Sagen lesen und kommentieren. Das mache ich gerne. Menschen hineinnehmen in alte Zeiten. Als es noch kein elektrisches Licht, keinen Fernseher oder Computer gab. Hinein in das einzigartige Ereignis dieser Abendsitze. Da, wo sie sich früher in den langen Winterabenden getroffen haben. Und dann diese Geschichten erzählt haben. Von den armen Seelen, die nach ihrem Tod büssen mussten. Von Gratzügen, Hexen und unheimlichem Geschehen.

Letzten Donnerstag: Gut 40 Personen waren da, alle liessen sich hineinnehmen und waren sehr begeistert - was mir zugegebenermassen sehr gut tat… Aber da fragte einer zum Schluss: „Was ist denn deine Lieblingssage?“ Das brachte mich ein wenig in Verlegenheit. Natürlich liebe ich alle Sagen, wo der Pfarrer immer Bescheid weiss und eine Lösung bereit hat. Ich bin ja selber einer. Dann aber musste ich von der Geschichte erzählen, die mich effektiv seit Jahren beschäftigt und einiges über die menschliche Missgunst offenbart:
Da ging der Herrgott über Land. Traf einen Mann. Sagte zu ihm: Wünsche dir, was du willst. Ich werde es dir schenken. Nur, denke daran, dein Nachbar wird das Doppelte erhalten. Darauf sagte der Mann zum Herrgott: Nimm mir ein Auge, dann hat mein Nachbar keins mehr…

Missgunst. Neid. Wie anders wäre unsere Welt, wenn wir dem keinen Raum geben würden?

Es lohnt sich, sich mit den Walser Sagen auseinander zu setzen. Und den Neid nicht keimen zu lassen. Klar würde ich mich auch freuen, Sie an meinen Sagenabenden willkommen zu heissen.



Christoph Gysel, Tourismuspfarrer, Touristiker und Autor 

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